Am 13.09.2015 verkündete Innenminister de Maiziere die Wiedereinführung von Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze:
Er gab als Ziel dieser Maßnahme an, den Zustrom von Flüchtlingen zu begrenzen und wieder zu einem geordneten Verfahren bei der Einreise zu kommen. Offen ließ er in dieser Pressekonferenz, ob tatsächlich auch Zurückweisungen angeordnet werden sollten.
In der Praxis wurde dann jeder durchgelassen, der das Zauberwort „Asyl“ sagen konnte – mit den bekannten Folgen, positiv wie negativ.
Dass dies noch am Vortag ganz anders geplant worden war, behauptet der WELT-„Journalist“ Robin Alexander (1) in seinem neuen Buch (2):
„Während der CDU-Kongress noch tagt, fährt Merkel zurück ins Kanzleramt und bittet um 15 Uhr die fünf wichtigsten Politiker Deutschlands, in den kommenden Stunden telefonisch erreichbar zu sein: Horst Seehofer und Sigmar Gabriel als Parteivorsitzende der beiden Koalitionspartner, Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Innenminister Thomas de Maizière und Kanzleramtschef Peter Altmaier. Alle fünf fragen sich: Schließt Merkel die Grenze?
Zuerst führt sie Einzelgespräche. Um 17.30 Uhr lässt sie alle zusammenschalten. In dieser Telefonkonferenz schlägt de Maizière vor, dass angesichts der Überforderung der Bundesländer bei der Versorgung der Flüchtlinge zeitlich befristet wieder Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze eingeführt werden sollen. Niemand aus der Runde widerspricht.
Dann geht es darum, ob nicht nur kontrolliert, sondern auch Menschen ohne notwendige Papiere an der Einreise gehindert werden sollen. De Maizière ist dafür. Auch Seehofer. Die beiden Sozialdemokraten legen sich zunächst nicht fest, ebenso wenig Merkel und Altmaier. Die Rechtslage wird erörtert. Dann malt sich die Runde Szenarien aus: Was passiert, wenn die Migranten an der deutschen Grenze gestoppt werden? Stauen sie sich in Österreich? Versuchen sie gar, die Grenze zu stürmen?
Am Ende wird de Maizières Vorschlag angenommen. Es soll wieder Grenzkontrollen geben. Parallel dazu soll der Zugverkehr von Österreich nach Deutschland für zwanzig Stunden unterbrochen werden. Und – der springende Punkt: Flüchtlinge sollen an der Grenze zurückgewiesen werden. Jetzt entscheiden sich die führenden Politiker der großen Koalition also genau für das, was Angela Merkel wenig später öffentlich für unmöglich erklären wird. In der Telefonschaltkonferenz stimmt sie jedenfalls noch explizit zu. In einer Hinsicht gehen die Erinnerungen der Beteiligten auseinander: Sollten alle Flüchtlinge abgewiesen werden oder nur diejenigen aus sicheren Herkunftsländern?
Das waren zu diesem Zeitpunkt sämtliche Länder der Europäischen Union sowie Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien. Noch im August stammten fast die Hälfte der neu in Deutschland ankommenden Geflüchteten vom Balkan, nicht aus Syrien. Ihre Asylverfahren sind fast aussichtslos. Im Sinne einer Beschränkung auf wirklich Schutzbedürftige, wie sie von Merkel am Nachmittag im Tempodrom öffentlich angemahnt worden war, ergäbe die gezielte Abweisung von Migranten ohne Bleibeperspektive durchaus Sinn. Und zumindest die Syrer wären noch immer willkommen gewesen.
Ein Teilnehmer der Telefonkonferenz erinnert sich im vertraulichen Gespräch dezidiert: Es sei damals um die Zurückweisung von allen Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten gegangen, an der österreichischen Grenze also de facto von allen Flüchtlingen. Für diese Version spricht einiges, denn nur schwer vorstellbar ist ein Szenario, bei dem eine Bundespolizei, die es in diesen Tagen nicht einmal schafft, die Namen aller Ankommenden zu notieren, auch noch deren Identität rechtssicher prüft.“
Die Blaupause zur Umsetzung dieses Vorhabens lag schon in der Schublade – man musste nur die Grenzkontrollen, wie sie beim G7-Gipfel in Elmau bereits durchgeführt worden waren, wieder praktizieren. Dass es dann doch anders kam stellt R. A. so dar, dass in der entscheidenden Sitzung, an der de Maiziere und „sämtliche Staatssekretäre, die Führung der Bundespolizei, sowie vier Abteilungsleiter und einige Unterabteilungsleiter und Referatsleiter“ teilnahmen und die kurz vor der oben gezeigten Pressekonferenz stattfand, Bedenken aufgrund juristischer Unklarheiten und wegen der Furcht vor unschönen Bildern aufkamen. Weder de Maiziere noch Merkel, mit der er in telefonischem Kontakt stand, wollten letztlich die Verantwortung übernehmen. Robin Alexander schreibt:
„Gabriel hat in den Wochen nach der Grenzöffnung mehrfach gegenüber Vertrauten die Versuche Merkels beklagt, Verantwortung abzuwälzen. Damals sind die offenen Grenzen noch populär und in der SPD kursiert rasch die Parole: „Wir haben schon die Agenda 2010 gemacht, wir können für die CDU nicht auch noch die Grenze schließen.“
Nach diesem Telefonat, dem letzten, das er aus der Sitzung heraus führt, ordnet de Maizière an, dass der Einsatzbefehl umgeschrieben wird. Romann [Anm.: Dieter Romann, Präsident des Bundespolizeipräsidiums und damit Deutschlands oberster Grenzschützer] muss genau jene fünf Wörter streichen, auf die es ankam. Statt Zurückweisungen „auch im Falle eines Asylgesuches“ werden die Polizeidirektionen jetzt angewiesen, dass „Drittstaatsangehörigen ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente und mit Vorbringen eines Asylbegehrens die Einreise zu gestatten ist“. Es wird zwar kontrolliert, aber jeder, der Asyl sagt, wird hineingelassen – egal ob er aus einem sicheren Drittstaat oder einem sicheren Herkunftsland kommt. Die Polizisten an der Grenze können es kaum glauben: dafür der ganze Aufwand!?“
Mir liegt es vollkommen fern, hier eine erneute Flüchtlingsdebatte lostreten zu wollen. Ich wette, wir hatten davon alle schon genug – ich für meinen Teil im Rahmen von Frank Lübberdings inzwischen leider dahingeschiedenem „wiesaussieht“-Blog.
Was mich interessiert ist die Neuigkeit, dass es am 12.09.2015 einen Konsens in der GroKo-Führung gab, die Grenzen dichtzumachen. Diese Darstellung ist das endgültige Aus für die Mär von Merkel als Flüchtlingskanzlerin. Sie verliert damit den letzten Rest von Glaubwürdigkeit, den sie vielleicht bei manchen Leuten noch hat. Deshalb kann das Thema den Verlauf des Wahlkampfs maßgeblich beeinflussen.
Man mag einwenden, dass Merkel ihre Glaubwürdigkeit in der Flüchtlingsfrage ohnehin schon längst eingebüßt hat; der schmutzige Türkei-Deal und die derzeitige Abschiebepraxis sprechen eindeutig gegen sie. Ich kenne aber genügend Leute, die ihr zugutehalten, sie habe es zumindest probiert und sei letztlich am Druck der Öffentlichkeit und dem Erstarken der AfD gescheitert.
Leider enthält das Buch von Alexander, das mir bereits gedruckt vorliegt, keine Quellenangaben. Er schreibt dazu, er habe „im Sommer und Herbst 2016 noch einmal das Gespräch mit allen Akteuren in der Flüchtlingskrise gesucht. […] Einige meiner Gesprächspartner bestanden auf Vertraulichkeit. Um Rückschlüsse zu vermeiden, nenne ich grundsätzlich keinen Informanten. Angela Merkel war zu einem rückblickenden Gespräch über ihre Rolle in der Flüchtlingskrise für dieses Buch nicht bereit.“
Ich hatte das Thema bereits in „FAKE news“ angesprochen. Wenn ich es jetzt aus der Schmuddelecke (leie nennt das “ Borderline-Thread) heraus in einen eigenen Beitrag verfrachte, dann in der Hoffnung, das Interesse der Podcast-Betreiber zu wecken und eine Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Alexanders Darstellung zu bekommen. Wer weiß – vielleicht sogar im Rahmen einer BPK?
(1) Der Grund, weshalb ich die Berufsbezeichnung dieses Burschen in Gänsefüßchen setze, ist hier (ab ca. 29:30) zu besichtigen:
[spoiler][media]https://www.youtube.com/watch?v=W3PoWxPZJMA[/media][/spoiler]
(2) Einen frei zugänglichen Vorabdruck des kompletten ersten Kapitels gibt’s jetzt hier:
http://hd.welt.de/politik-edition/article162585054/Das-Bild-das-es-nicht-geben-sollte.html
Update:
Es gibt zur Einordnung von Alexanders Buch bzw. dessen zentraler Aussage, dass am 13.09.2015 die Grenzen dicht gemacht werden sollten, dies aber dann aus Angst vor Verantwortung nicht geschah, genau zwei Möglichkeiten:
1. Es stimmt. Dann war Merkels ganzes „Wir schaffen das!“-Getue nur ein Versuch der Verschleierung ihrer Unfähigkeit zum Treffen einer möglicherweise unpopulären, weil mit „unschönen Bildern“ verbundenen, Entscheidung. Ein Vorgang, der durchaus symptomatisch wäre für das Merkel’sche System der Alternativlosigkeiten: Entscheidungen werden entweder solange vertagt, bis Alternativen wegfallen, oder alternative Möglichkeiten werden – gerne mit Hilfe der Staatsmedien – als nicht praktikabel dargestellt.
2. Es ist gelogen. Dann wäre zu fragen, wer oder was einen karrieregeilen Kerl wie Robin Alexander dazu treibt, solch einen Fake in die Welt zu setzen.
So oder so, eines ist sicher: In ihren Flieger lässt die Merkel den nicht mehr rein.
https://twitter.com/robinalexander_/status/564408635791777792
Sicherungskopie
[media]https://www.youtube.com/watch?v=z9Q-oSU1bLE[/media]
Christian Lindner (FDP) bei der Buchpräsentation:
„Dieses Buch ersetzt im Grunde einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss.“
Eine Bewerbung als Juniorpartner für eine schwarz-gelbe Koalition hört sich anders an!
Als alter Verschwörungstheoretiker bin ich inzwischen überzeugt, dass es im politischen Berlin Leute gibt, die bereits jetzt schon wissen, dass Merkel es bei der Wahl im Herbst „nicht schaffen“ wird.
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Nach Durchsicht der Kapitel 1 bis 6 kann ich sagen, dass im Buch die Ereignisse vom Herbst 2015 auch ohne Quellenangaben für mich – aus meiner Erinnerung heraus und mithilfe gängiger Suchmaschinen – gut nachvollziehbar dokumentiert sind. Eine Inhaltsangabe reiche ich bei Interesse noch nach.
Wo Herr Alexander uns aber etwas Entscheidendes vorenthält ist im Kapitel über das Zustandekommen des schmutzigen Türkei-Deals. Der war in Grundzügen schon seit mindestens September 2015 ausgearbeitet; federführend dabei war ein Institut namens „ESI“, das von zahlreichen europäischen und amerikanischen Regierungen, NGOs und Think Tanks – wie beispielsweise der Stiftung Mercator, George Soros´ Open Society Institute, dem Rockefeller Brothers Fund und dem German Marshall Funds – finanziert wird.
Nachzulesen hier: https://www.heise.de/tp/features/Merkels-Plan-Samsoms-Plan-tuerkische-Plaene-oder-alles-ESI-3379017.html
Bin mir noch nicht ganz klar darüber, wie ich das Weglassen dieser nicht ganz unwichtigen Information durch den Buchautor einordnen soll.